Krisen, Werte und Resilienz in Teams und Organisationen

Wie können wir dafür sorgen, dass Nationen, Religionen und Kulturen ihre wirkliche Stellung in der Welt mit ein bisschen mehr Realismus und ein wenig mehr Bescheidenheit betrachten? …Die meisten Menschen glauben nur zu gern, sie seien der Nabel der Welt und ihre Kultur sei das Herzstück der Menschheitsgeschichte!

Yuval Noah Harari (21 Lektionen…; 2018)

Jeder möge von da, wo er ist, einmal einen Schritt näher treten

Navid Kerami (2021)

Warum „Werte“ in Krisenzeiten? Gerade in Krisenzeiten stellt sich die Frage nach einer tragfähigen und vor Allem auch realitätsgerechten Basis unseres Denkens und Handelns. Wir können uns fragen: was sind für mich persönlich und beruflich wichtige Werte? Wie komme ich zu diesen Werten? Stärken sie mich in schwierigen Zeiten oder behindern sie mich eher? Die Welt um uns herum verändert sich zu manchen Zeiten gefühlt im Wochenrhythmus. Unsere Werte dagegen sollten beständiger sein und sich nicht jeder Mode, jedem Trend unterwerfen. Wir leben in einer hyperkomplexen Welt. Für Viele von uns ist das eine große Herausforderung.

Konstruktive Werte, wenn sie durch eigene Erfahrung und eigenes Resilienzerleben gewachsen sind, stärken Menschen dabei, mit sich selbst im Einklang zu leben. Werte, und damit sind nicht kindlich aggressive Macht- oder Besitzbestrebungen unter dem Deckmantel von Ideologien gemeint, können uns unterstützen in Bezug zum Gemeinwohl (goldene Regel) verantwortungsvoll zu handeln.

Wenn wir über Kultur und Werte in Organisationen nachdenken, wird häufig zuerst deutlich: sie sind uns oder unseren Kunden/Klienten nicht bewusst. Und obwohl wir unsere jeweilige Kultur und deren Werte, natürlich nur inoffiziell, für den jeweiligen „Nabel der Welt“ halten, können wir diese Werte spontan oft nicht benennen. Häufig werden sie erst im Krisenfall aktiviert oder aber – heimlich und hoffentlich unbemerkt für Außenstehende – über Bord geworfen.
Nicht selten hängen sie als Leitbilder an den Wänden in Fluren und Büros oder führen andernorts ein beschauliches, nämlich wenig beachtetes, Dasein in Ablageordnern bzw. auf Websites.

Die Kultur von Betrieben, Projekten und Teams ist dennoch zentral. Kultur sind alle geschriebenen, mehr noch alle ungeschriebenen, nicht-formalisierten „Gesetze“, erlaubte, erwünschte und nicht erwünschte Denk- und Verhaltensweisen.

Kultur entsteht durch Werte, Traditionen, Erlaubnis, Vorgaben, usw., die Menschen (!) als lebende Akteure in Teams und Organisationen entwickelt haben. Diese Menschen versuchen, sich an den – offiziellen – Werten und der Kultur Ihrer jeweiligen Organisationen so gut als möglich zu orientieren.
Organisationen geben Halt, Rahmen, Auftrag, Verbindung, finanzielle Sicherheit und die gemeinsame, soziale Ausrichtung auf das Organisationsziel. Dieses wiederum wird geprägt durch die Werte und Kultur der Organisation.
Aber Organisationen sind auch in vieler Hinsicht den Bedingungen des – globalen – Marktes verpflichtet, wenn nicht unterworfen.
Das ist wichtig festzuhalten: einerseits sind Projekte, Teams, Abteilungen, Führungskräfte und Mitarbeiter/Innen Akteure und gestalten Werte und Betriebskultur, sie sind also nicht nur deren „Opfer“! Andererseits ist diese Gestaltungsfreiheit ganz klar durch Finanzierungsvorgaben und die Gesetze des Marktes begrenzt. Und diese Gesetze des Marktes sind bekanntlich nicht unbedingt identisch mit hehren Idealen und Werten.

Kultur und Werte scheinen zunächst konservativ und haben in der Tat bewahrenden Charakter. Sie sind im Grunde Bausteine von – menschlicher – Identität. Sie prägen die kollektive aber auch die individuelle Identität. Das wird sehr deutlich, wenn man bestimmte Rollenbilder von Männern und Frauen in verschiedenen Kulturen betrachtet oder wenn Sie so unterschiedliche Organisations- und Betriebskulturen wie die einer Bank und die einer Kirchengemeinde miteinander vergleichen.

Bis vor einigen Jahren waren zum Beispiel so genannte basisdemokratische Betriebs-Kulturen besonders bei Start Up’s und in sozialen Projekten in Mode. Dazu gehörten im Feld Beratung passende Vorstellungen wie: Supervision mit Leitung zusammen ist per se undenkbar; Supervision hatte z.T. den Charakter von Gruppentherapie; sie hatte auch etwas „Geheimnisvolles“. Das Wissen von Berater/Innen um die Rahmenbedingungen der Arbeit von Kunden und Klienten war nicht erlaubt bzw. schien unwichtig. Hier unterscheiden sich natürlich Supervision und Organisationsentwicklung. Allerdings wenn ich die Organisation und deren Kultur, in dem sich ein Team oder Einzelne bewegen, nicht kenne, wie will ich diese dann supervidieren?

Wie verhalten sich Werte und deren Umsetzung zueinander? Werte sind die Bausteine von Kulturen, sie sind aber nicht „einfach so vorhanden“. Sie können sich verändern bzw. von den Beteiligten weiter entwickelt, hinterfragt, abgeschafft oder erneut wertgeschätzt werden.
Vor Allem aber: Werte zu vertreten, ohne danach zu handeln, ist „heiße Luft“, Tam, Tam und ehrlich gesagt Bluff, neudeutsch Fake. Ballast für Alle ohne Bodenhaftung.

Werte selbst sind nicht nur kognitiv zu begreifen sondern sie beruhen auf einer intrinsischen, emotional verankerten Haltung. Sie können erlernt, vor Allem aber erfahren werden: durch Vorbild!
Hier stehen natürlich die Führungskräfte, Frauen und Männer, besonders im Focus. Was bedeutet es für Teams und Organisationen, wenn deren Führungskräfte unklare, verschwurbelte, nur unbewusste oder schlicht nicht authentisch gelebte Werte vertreten? Hat das Auswirkungen auf die Mitarbeitenden und deren Arbeit bzw. Auftragsverständnis?

Hier sind mindestens 3 Varianten der im Betrieb gelebten Werte im Dreieck Führung – Geführte – Organisation zu unterscheiden:

  • Kongruenz oder wenigstens Annäherung konstruktiver Werte bei Führungskräften und Mitarbeitenden; diese sollten in authentischer Weise umgesetzt werden. Das fördert bekanntlich die Motivation.
  • Auseinanderdriften der Werte und ihrer Umsetzung mit dem Ergebnis von gegenseitiger Sprachlosigkeit, bis hin zu mittelfristigem (vollständigem) Beziehungsabbruch und allen emotional zehrenden Konfliktstufen davor. Das schafft wechselseitige Isolation.
  • Irrelevanz in Bezug zu gelebten, gemeinsamen Werten, das beschädigt auf Dauer die kollektive Identität von Führungsebenen, Teams, Organisationen. Es macht sie verletzbar, schwächt die Resilienz und führt häufig zu Kontrollwahn statt Effizienz.

Welche Werte sind wichtig? Grundsätzlich gilt zunächst sich klar zu machen: die Werte in der Arbeitswelt und „private“ Werte sind nicht einfach identisch. Das zeigt sich mitunter schmerzhaft deutlich bei Betrieben, Projekten und Teams, bei denen eine so genannte Familienkultur eine große Rolle spielt. Dies ist z.B. bei Krankenhaus-/Pflegeteams, überhaupt im Gesundheitswesen häufig der Fall aber auch im Bereich Kulturschaffen also überall dort, wo ein hohes individuelles Engagement plus Gemeinschaftsgeist, gefordert wird.

Ähnlich wie in – gut funktionierenden – Familien werden in dieser Kultur kommunikative Werte hoch angesehen: Leistungs- und Gesprächsbereitschaft, Offenheit und Präsenz, angstfreies Klima, Schutz und angemessene Rückendeckung, deutlich kommunizierte Prioritäten z.B. bei der Ausführung von Arbeitsaufträgen, Fehlerkultur statt Überängstlichkeit, Vertrauen statt Paranoia, Zusammenhalt, konstruktiv gelebte (!) Hierarchien, Vorgesetzte, die Rückhalt und Schutz bieten sowie Verantwortung für das gemeinsame Ganze übernehmen und eine „Vision“ der (Zusammen-)Arbeit vertreten, usw.

Diese sinnvollen, motivierenden, den Teamzusammenhalt und die Identifikation mit der Arbeit fördernden Werte stehen mitunter im Widerspruch zu dem „innerfamiliären“ Druck und der „außerfamiliären“ Wirklichkeit.
Der Druck innerhalb solcher Systeme entsteht häufig durch ein „zu viel“ an Hierarchie oder Ungleichheit und Ungerechtigkeit oder „zu wenig“ z.B. an Authentizität und Identifikation. Im Außenbezug wirken sich häufig die konkreten Kosten-Nutzen-Bedingungen negativ aus! So beispielsweise in einem Gesundheitskonzern, in dessen Namen und Auftrag die Angestellten aller (!) Hierarchiestufen arbeiten, wenn sich angesichts von chronischer Dauerbelastung die Sinnfrage stellt: in wessen Namen arbeiten wir hier eigentlich?

Beide Welten, innen wie außen, werden häufig als widersprüchlich erlebt. Das fördert nicht selten schmerzhafte Loyalitätskonflikte im Inneren der Akteure und führt zu Frustration bis hin zu Resignation, zu Flucht in die Krankheit, usw.
Hier wird auch ein weiterer wichtiger Faktor deutlich: Werte sind nur so viel wert wie deren Umsetzung in eine tragfähige Arbeitspraxis.
Hier sollten die oft widersprüchlichen Interessen der Organisation, der diese vertretenden Führungskräfte und der Mitarbeitenden selbst regelmäßig geprüft und in ihrer Gültigkeit reflektiert bzw. neu ausgehandelt werden.
Werte sind nicht in Stein gemeißelt sondern müssen immer wieder neu miteinander verhandelt werden.

Was gefährdet Werte? Vor Allem das, was S. Freud „narzisstische Differenzen“ nannte:

  • Abwehr von Kritik in generalisierter Weise an Allem, was das eigene Selbstbild in Frage stellt
  • Illusionen und Verwechslung von Größenselbst und realem Ich; bzw. das dauerhafte Leiden daran, dass beide so wenig kompatibel erscheinen
  • Festhalten an Narrativen und Mythen, häufig aus vergangenen „besseren“ Zeiten. Aber auch die unreflektierte Produktion neuer Mythen wie „wir sind so ein chaotisches Team“ u. ä. Motivationssaboteure
  • Binäre Strukturen: schwarz-weiß-denken; Spaltungen pflegen statt farbliche Abstufungen zulassen und Widersprüchliches zu integrieren
  • Ausgrenzen, abwerten oder idealisieren statt – sich – realitätsnah zu fragen: was ist mein Anteil?

Was fördert Werte?

  • Vertrauen, auch sich selbst gegenüber; Ehrlichkeit und Transparenz statt „unter den Tisch kehren“ oder Unterstellungen und „Lug und Trug“
  • Schutz und angemessene Rückendeckung, besonders seitens der Führungskräfte, die nicht zu verwechseln sind mit „Alles durchgehen lassen“!
  • Klar haben, was hat Vorrang z.B. beim Ausbalancieren von Kunden- und Mitarbeiterinteressen
  • Fehlertoleranz statt Überängstlichkeit; in einem vertrauensvollen Betriebs-oder Teamklima werden Fehler in angemessenem Rahmen angesprochen und als gemeinsame Lernchancen verstanden
  • Erdung, Realitätssinn und Bodenhaftung statt Drama
  • Damit Werte gedeihen bzw. wachsen können, braucht es Vertrauen

Was fördert den Kernwert Vertrauen?

  • Vertrauen entsteht durch konkretes Tun, durch Handeln und Umsetzen, durch klare Zielsetzung und ebenso klare Navigation
  • Wenn es in Teams bzw. zwischen Teams und Vorgesetzten nicht (mehr) genug Vertrauen gibt, entsteht – ebenso banal wie wahr – Misstrauen.
  • Misstrauen wirkt wie ein schleichendes Gift. Menschen fühlen sich schnell angegriffen; die Kommunikation geht aneinander vorbei, die Grenzen zwischen Sach- und Beziehungsebene verwischen leicht oder verschwinden ganz. Dann bleibt auch die kleinste Kritik nicht mehr im Außen sondern verletzt den Innenraum von Personen. Es dominieren Angst und Verunsicherung bis hin zu Gefühlen von Wertlosigkeit und Ohnmacht
  • Vertrauen wird gefördert durch alle Formen von Gerechtigkeit: bei der Verteilung von Arbeitsaufgaben, bei der Ausgewogenheit von Anerkennung in Form von Lob und Geld, bei der Verteilung von Ressourcen, beim Schutz und der Integration von Unterschiedlichkeit, usw.

Werte gibt es nicht umsonst. In Wohlfühl-Zeiten kosten sie nicht viel, in Krisenzeiten werden sie teuer im doppelten Sinn. Vielleicht haben wir uns – zu sehr – daran gewöhnt, dass Andere (wer genau?) für unsere Werte einstehen, bzw. dass diese Werte selbstverständlich sind? Vielleicht wäre es draußen aber auch drinnen in Organisationen hilfreich, wenn wir uns und unsere Kulturen bzw. Werte „mit etwas mehr Realismus und ein wenig mehr Bescheidenheit“ betrachten“? Das und nicht weniger wäre die Bedingung der Möglichkeit, um einander wieder „einen Schritt näher zu kommen“ und dabei gleichzeitig unsere jeweiligen Grenzen zu achten.
Organisationen und ihre Werte bzw. ihre Kulturen entstehen nicht in einem „luftleeren Raum ohne Außenbezug“, selbstrelevant und frei! Im Gegenteil, sie spiegeln die gesamtgesellschaftliche und zeitgeschichtliche Wirklichkeit mit all ihren Irrtümern, ihren Mythen und ihren Hoffnungen.
Das macht sie anfällig für alle möglichen Verführungen aber auch immer noch und immer wieder zu Projektionsflächen einer „besseren Welt“. Manchmal, wenn ihre Akteure, Frauen und Männer, statt Nabelschau zu betreiben, mit ein wenig mehr Realismus und Empathie darin unterwegs sind, tragen Organisationen, die ja von Menschen gemacht sind, so auch zur Performance konstruktiver Kulturen und ihrer Werte, – „drinnen und draußen“- bei.

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